Pandemiebedingte Triage. Was die Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet | Stiftung Warentest

2022-12-08 12:06:22 By : Ms. Jufang Wang

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Eine Pandemie kann zu Versorgungs­engpässen in Kliniken führen. Das so genannte Triage-Gesetz regelt, wie Ärzte bei zu wenig Betten oder Beatmungs­geräten entscheiden.

Trotz voller Intensiv­stationen während der Corona-Pandemie mussten Ärztinnen und Ärzte in deutschen Kliniken bislang keine Erkrankten von einer über­lebens­wichtigen intensivmedizi­nischen Versorgung mangels Behand­lungs­kapazitäten ausschließen. Tritt diese schwierige Situation doch einmal ein, wird nun gesetzlich geregelt, welche Abwägungen Ärzte in einer Pandemie treffen sollen, wenn nicht alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen behandelt werden können. Genannt wird das Verfahren Triage.

Das Gesetz, das noch durch den Bundes­rat muss (nicht zustimmungs­pflichtig) und ab Dezember 2022 gilt, soll insbesondere Menschen mit einer Behin­derung vor Benach­teiligung schützen. Die Regeln dazu werden im Infektions­schutz­gesetz (Paragraf 5c IfSG) ergänzt. Gibt es etwa zu wenig Intensivbetten oder Beatmungs­geräte, soll die Zuteilung von Therapieplätzen auf Intensiv­stationen dann nach den fest­gelegten Kriterien erfolgen.

Sind Intensiv­stationen aufgrund eines Infektions­geschehens über­lastet und müssen Ärzte eine Auswahl treffen, welche Patientin oder welcher Patient intensivmedizi­nisch behandelt wird, müssen sie ihre Zuteilungs­entscheidung maßgeblich nach der aktuellen und kurz­fristigen Über­lebens­wahr­scheinlich­keit der Betroffenen treffen. Weitere Erkrankungen dürfen bei der Beur­teilung einge­schränkt berück­sichtigt werden.

Kriterien wie insbesondere eine Behin­derung, das Alter, die verbleibende mittel- oder lang­fristige Lebens­erwartung, der Grad der Gebrech­lich­keit und die Lebens­qualität dürfen nicht berück­sichtigt werden. Dies gilt für alle Patientinnen und Patienten, unabhängig von der Ursache ihrer intensiv­pflichtigen Behand­lungs­bedürftig­keit.

Bei Patienten, die bereits intensivmedizi­nisch behandelt werden, dürfen Ärzte die Behand­lung nicht zugunsten anderer behand­lungs­bedürftiger Personen abbrechen. Das ist der so genannte Ausschluss der Ex-Post-Triage.

Die Entscheidung, welche Patientin oder welcher Patient aktuell und kurz­fristig eine Über­lebens­wahr­scheinlich­keit hat, müssen einvernehmlich zwei Fach­ärztinnen oder -ärzte oder mehr­jährig intensivmedizi­nisch erfahrene Ärztinnen oder Ärzte treffen, die die Patientinnen und Patienten unabhängig voneinander begut­achtet haben. Eine weitere Person mit Fach­expertise muss hinzugezogen werden, wenn Patientinnen oder Patienten mit einer Behin­derung oder mehreren Erkrankungen, auch als Komorbidität bezeichnet, betroffen sind.

Bund, Länder und Kliniken sollen alles dafür tun, damit es in einer Pandemie als Folge von über­lasteten Intensiv­stationen nicht zu Verteilungs­fragen und einer Patienten­auswahl kommt. Alle regionalen und über­regionalen Behand­lungs­möglich­keiten sollen ausgeschöpft und organisatorische Maßnahmen ergriffen werden, um Betten­knapp­heit zu verhindern. Dazu gehören etwa die Umorganisation des stationären Regel­betriebs, die Zurück­stellung plan­barer Operationen, die Schaffung zusätzlicher Kapazitäten, die Organisation des notwendigen Personals oder die Koope­ration mit anderen Krankenhäusern. Auch interna­tionale Verlegungen sollen geprüft werden.

Ärztinnen und Ärzte medizi­nischer Fachgesell­schaften haben für Ressourcen-Engpässe einen Leitfaden entwickelt, der von der Akademie für Ethik in der Medizin unterstützt wird. Mitunter wird darüber unter dem Stich­wort „Triage“ diskutiert. Der Intensiv- und Notfall­mediziner Professor Uwe Jans­sens erklärt, warum er diesen Begriff für schwierig hält – und nach welchen Kriterien Ärzte entscheiden, wenn intensivmedizi­nische Ressourcen knapp werden. Das Interview haben wir im November 2020 geführt, als Professor Jans­sens noch Präsident der Deutschen Inter­disziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfall­medizin (DIVI) war.

Herr Jans­sens, wie gehen Ärzte vor, wenn es in den Kliniken zu Engpässen in der Notfall- und in der Intensivmedizin kommt?

Auf solch eine Situation sind Ärzte in Deutsch­land vorbereitet. Bereits im Früh­jahr, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, haben acht medizi­nische Fachgesell­schaften hierfür einen Leitfaden entwickelt. Es gibt medizi­nisch-ethische Kriterien, nach denen Ärzte dann auswählen, wer eine intensivmedizi­nische Behand­lung erhält.

Warum sprechen Sie in diesem Zusammen­hang nicht von „Triage“?

Triage ist ein aus der Militärmedizin herrührender Begriff. Es geht dabei um die – ethisch schwierige – Aufgabe, etwa bei einem Massen­unfall von Verletzten oder anderweitig Erkrankten darüber zu entscheiden, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen aufzuteilen sind. Es handelt sich um ein Stratifikations­verfahren, also eine Ersteinschät­zung vor der voll­ständigen Diagnose. Das ist nicht auf die Covid-19-Pandemie über­trag­bar. Denn hier müssen wir uns auf die Situation einstellen, keine verfügbaren Ressourcen mehr zu haben. Genau dafür haben die Fachgesell­schaften klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet.

Nach welchen Kriterien entscheiden dann die Ärzte?

Die Entscheidung orientiert sich immer an der klinischen Erfolgs­aussicht einer intensivmedizi­nischen Behand­lung und am Willen des Patienten. Um das beur­teilen zu können, prüfen wir den Schweregrad der aktuellen Erkrankung und berück­sichtigen die Vorerkrankungen des Patienten. Das Alter des Patienten, Beruf, Behin­derung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle. Nach Abwägung entscheiden Ärzte über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizi­nischen Therapie oder nicht-intensivmedizi­nischen Therapie, zum Beispiel auf der Allgemein­station. Es kann auch um eine Palliativ­versorgung gehen.

Wer ist an der Entscheidungs­findung beteiligt?

Es gilt das Mehr-Augen-Team-Prinzip. Eine Entscheidung über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizi­nischen Behand­lung sollen möglichst zwei intensivmedizi­nisch erfahrene Ärzte, eventuell ein weiterer Fach­arzt sowie Vertreter der Pflege und weiterer Disziplinen, zum Beispiel ein Ethikberater der Klinik, begleiten. Immer wird der Patient selbst oder sein Vertreter, etwa der in einer Vorsorgevoll­macht genannte Bevoll­mächtigte, in die Diskussion und Entscheidung mit einbezogen.

Manche Menschen lehnen eine intensivmedizi­nische Behand­lung für sich ab. Was empfehlen Sie dann?

Der Vertreter des Patienten, in der Regel der Bevoll­mächtigte, sollte wissen, wie der Patient zu intensivmedizi­nischen Maßnahmen steht. Ist ein Patient nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, ist der Bevoll­mächtigte der Ansprech­partner für die Ärzte. Wer eine intensivmedizi­nische Behand­lung für sich ablehnt, sollte dies in einer Patienten­verfügung schriftlich dokumentieren.

Medizi­nische Fachgesell­schaften haben klinisch-ethische Empfehlungen für Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizi­nischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie entwickelt. Sie sollen den verantwort­lichen Akteuren durch medizi­nisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrens­weisen eine Entscheidungs­unterstüt­zung bieten. An der Erstellung waren Fach­vertreter aus der klinischen Notfall­medizin, Intensivmedizin, Medizin­ethik, Recht und weiteren Disziplinen beteiligt.

Bei der deutschen inter­disziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfall­medizin (DIVI) finden Sie die Handlungsempfehlungen zu Covid-19.

Bei der DIVI finden Sie auch täglich aktualisierte Daten zur Auslastung der Intensivstationen in deutschen Kliniken.

Zunächst tun die Kliniken alles, damit es nicht zu Engpässen auf Intensiv­stationen kommt. Erst wenn die Ressourcen weder in der eigenen Klinik noch regional oder über­regional ausreichen, muss entschieden werden, welche intensiv­pflichtigen Patienten entsprechend behandelt werden, welche nicht – und welche nicht mehr.

Medizi­nische Entscheidungen orientieren sich immer am Bedarf des einzelnen Patienten. Dabei bilden die medizi­nische Indikation und der Patientenwille die Grund­lage für eine patientenzentrierte Entscheidung. So ist eine Intensiv­therapie nicht indiziert, wenn

Reichen die Ressourcen nicht aus, kommt ergänzend zur patientenzentrierten Betrachtung eine „über­individuelle“ Perspektive hinzu. Dabei sind immer alle Patienten einzubeziehen – nicht nur Patienten mit Covid-19-Infektionen. Liegt eine intensivmedizi­nische Behand­lungs­notwendig­keit vor, müssen die individuellen Erfolgs­aussichten des Patienten einge­schätzt werden. Hierfür greifen die von den Fachgesell­schaften entwickelten Kriterien. Das Alter des Patienten, sein Beruf, ein Behin­derung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle.

Alle Informationen finden Sie im Detail im Special Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht.

In einer Vorsorgevoll­macht legen Sie fest, wer mit Ärzten spricht und Entscheidungen trifft, falls Sie dazu nicht mehr in der Lage sind – vorüber­gehend oder dauer­haft. Die bevoll­mächtigte Person ist der juristische Vertreter des Patienten. Das Vorsorge-Set der Stiftung Warentest enthält die wichtigsten Formulare, dazu gehören die Vorsorgevoll­macht, Patienten­verfügung sowie die Betreuungs­verfügung. Der Ratgeber hat 144 Seiten, kostet 16,90 (kostenlose Lieferung), die Ausgabe als PDF/E-Book kostet 13,99 Euro.

Wenn Sie sich umfassend mit dem Thema Patienten­verfügung beschäftigen möchten hilft der Ratgeber "Meine Patientenverfügung" mit den weiteren Schwer­punkten Palliativmedizin, Sterbe­hilfe und Organspende. Rechts­anwälte, ­Ärzte, Psychiater und Ethik­beauftragte kommen zu Wort. Der Ratgeber enthält außerdem alle Formulare für die recht­liche Vorsorge: 144 Seiten, 14,90 Euro (kostenlose Lieferung). Die PDF/E-Book-Version kostet 11,99 Euro.

Sollten Sie sich fragen, ob Sie Ihre Patienten­verfügung für den Fall einer Covid-19-Erkrankung anpassen sollten: Eine Behand­lung wegen Covid-19 ist kein Anwendungs­fall für eine Patienten­verfügung. Eine Patienten­verfügung kommt erst zum Einsatz, wenn ein Patient in aussichts­loser Krank­heits­situation dauer­haft nicht mehr einwilligungs­fähig ist.

Mehr Informationen und ein Interview mit dem Lungenfach­arzt Dr. Thomas Voshaar über Therapien bei schwerem Covid-19-Verlauf in unserem Special > Patientenverfügung in Corona-Zeiten.

Alternativ oder ergänzend zur Vorsorgevoll­macht ist eine Betreuungs­verfügung sinn­voll. Ein Verfügender kann darin fest­legen, wer im Notfall für ihn handeln soll. Kommt es zum Betreuungs­verfahren, prüft das Betreuungs­gericht, ob die vorgeschlagene Person als Betreuer geeignet ist. Sinn­voll ist es, weitere Wünsche aufzulisten, etwa welches Pfle­geheim erste Wahl ist, ob Religion eine Rolle spielt oder wer sich um das Haustier kümmern soll. Die Verfügung sollte schriftlich vorliegen.

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